Der Krieg in der Ukraine – Herausforderungen für Deutschland und Europa
von Herfried Münkler
Eskalationsrisiken und geopolitische Räume
Die größte Sorge im Umgang mit Kriegen, die allen vorangegangenen Schlichtungsbemühungen zum Trotz ausgebrochen sind, ist die um ihre räumliche und zeitliche Begrenzung. Ihr Übergreifen auf Nachbargebiete stellt mitsamt einer langen Dauer des Krieges nämlich ein erhebliches Eskalationsrisiko dar. Das gilt auch für den seit 2022 von Russland geführten Angriffskrieg gegen die Ukraine, bei dem als zusätzliches Eskalationsrisiko noch die russische Drohung eines Einsatzes von Nuklearwaffen eine Rolle spielt. Was den Faktor Zeit betrifft, so ist beim Krieg in der Ukraine kein Ende absehbar, da hier die Eskalationsdominanz der Russen und ein bislang ungebrochener Widerstandwille der Ukraine gegeneinanderstehen. Hinzu kommt auch hier die Gefahr eines Übergreifens der Kampfhandlungen auf angrenzende Gebiete, etwa auf die Republik Moldau oder auf Transnistrien.
Generell ist festzuhalten, dass dieser Krieg in einem geografischen Raum notorischer Instabilität und manifester Konflikte stattfindet; einem Raum, der wie ein Keil nach Europa hereinragt. Die Basis dieses Keils ist der Kaukasus mit einer Reihe von Auseinandersetzungen (etwa dem immer wieder aufflackernden Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan). Seine geografische Spitze ist der Westbalkan, also das Kosovo und Bosnien-Herzegowina. In seinem Zentrum liegt das Schwarze Meer mit der Ukraine im Norden und der Türkei im Süden, also dem Territorium des russischen Angriffskriegs einerseits und dem der notorischen Konflikte um den Status der Kurdengebiete in und nahe der Türkei andererseits.
Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ist dies ein postimperialer Raum: 1918 zerfielen hier drei multinationale, multikonfessionelle und multilinguale Großreiche, an deren Stelle einerseits mit der Sowjetunion und Jugoslawien nationenübergreifende, mehrsprachige politische Gebilde traten und andererseits Nationalstaaten, die während der 1920er Jahre mit kriegerischen Mitteln ihre Grenzen zu verschieben suchten. Zu nennen sind Polen, Ungarn und Griechenland. Die Folgen reichen bis in unsere Gegenwart hinein: Jugoslawien und die Sowjetunion sind zerfallen und haben eine Fülle von Konflikten hinterlassen, die den fraglichen Raum destabilisieren.
Das gilt für die geopolitische Bedeutung des Schwarzen Meeres, das zu kontrollieren Russland, die Ukraine und die Türkei bestrebt sind. Daneben gibt es mindestens drei Akteure, die unter „postimperialen Phantomschmerzen“ leiden: Russland im Hinblick auf die Ukraine und Belarus; die Türkei seit Beginn einer neoosmanischen Politik der AKP im Hinblick auf Nordsyrien und den Nordirak, aber auch im Ägäischen Meer gegenüber Griechenland; und schließlich Serbien als Verlierer der jugoslawischen Zerfallskriege mit Blick auf das Kosovo und Bosnien.
Wie auch immer der Krieg in der Ukraine weitergehen oder enden wird: Der hier beschriebene Raum wird als Ganzes über Jahrzehnte die große Herausforderung für Europa bilden. Es wird um die Sicherung beziehungsweise Wiederherstellung des Friedens, um die Herstellung politischer Stabilität im Inneren der Staaten und in begrenztem Umfang um den Transfer von Prosperität gehen. Diese Aufgaben könnten die EU finanziell und die NATO militärisch überfordern. Beide sollten sich auf diese dauerhaften Herausforderungen einstellen und vorbereiten.
Herfried Münkler bei seinem Abendvortrag. © Jens Schubert
Vom Umgang mit revisionistischen Mächten
Die größte Herausforderung einer jeden Friedensordnung ist das Aufkommen revisionistischer Mächte. Deren Hauptziel ist die Veränderung der bestehenden Ordnung, wobei sie diese Veränderung auch mit den Mitteln der Gewalt verfolgen. Der Westfälische Friede und der Wiener Kongress haben es geschafft, eine Friedensordnung zu begründen, innerhalb derer sich keine revisionistische Macht etablieren konnte. Das ist im Frankfurter Frieden (1871) – mit Frankreich als revisionistischer Macht – und in der Pariser Friedensordnung (1919) nicht mehr gelungen. Denn diese hatte, das war von Anfang an klar, vier revisionistische Mächte: das Deutsche Reich, Sowjetrussland (das im Vergleich zum Zarenreich nach Osten zurückgedrängt worden war), die Türkei (die gegen einen souveränen Kurdenstaat opponierte) und Italien (das, wiewohl Siegermacht, auf die dalmatinische Küste hatte verzichten müssen).
Es gibt vom Grundsatz her drei Optionen, wie revisionistische Mächte an der bestehenden Ordnung interessiert und von der kriegerischen Durchsetzung ihrer Ziele abgehalten werden können:
- nachhaltiger Wohlstandstransfer, der dazu führt, dass es der Bevölkerung nach Jahren der Entbehrungen materiell besser geht, was die Neigung zur Akzeptanz des Bestehenden in hohem Maße befördert. Ein Beispiel dafür ist die Bundesrepublik Deutschland ab den 1950er Jahren, aber auch Westeuropa insgesamt infolge des 1958 im Vertrag von Rom geschaffenen „Gemeinsamen Marktes“.
- Appeasement, also ein partielles Nachgeben gegenüber den Forderungen der Revisionisten in der Erwartung, sie auf diese Weise zu beruhigen. Seit dem Münchner Abkommen von 1938 hat Appeasement freilich einen schlechten Ruf, ist seitdem aber immer wieder praktiziert worden. In mancher Hinsicht enthielt das Minsker Abkommen Elemente von Appeasement, um Russland zu pazifizieren.
- Abschreckung/Deterrence, also der Aufbau militärischer Fähigkeiten und Ressourcen auf Seiten der am Fortbestand der bestehenden Ordnung interessierten Mächte, die den Revisionisten im Fall ihres Tätigwerdens einen sehr hohen Preis abfordern.
Wenden wir diese Optionen auf den Krieg in der Ukraine an, lässt sich festhalten, dass die beiden ersten Optionen, die Verflechtung des europäischen und des russischen Wirtschaftskreislaufs sowie das Entgegenkommen gegenüber Russland, nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt haben. Es bleibt also nur die Abschreckung, die die Europäer durch den Aufbau nachhaltiger Fähigkeiten zur Landes- und Bündnisverteidigung viel Geld kosten wird, weswegen sie in der Zeit vor dem 24. Februar 2022 um diese Option einen großen Bogen gemacht haben.
Theresa Caroline Winter und Herfried Münkler auf dem Podium.© Jens Schubert
Niederwerfungs- und Ermattungsstrategie
Der Historiker Hans Delbrück hat Ende des 19. Jahrhunderts zwischen Niederwerfungs- und Ermattungsstrategie unterschieden (Delbrück 2000 [1908]). Generell kann man sagen, dass Landmächte auf die Niederwerfungsstrategie setzen, während Seemächte qua Handelsblockade häufig eine Ermattungsstrategie präferieren. Sie zielen dabei auf die „Blut- und Nervenbahnen“ des Gegners und meiden die Konfrontation mit dessen „gepanzerter Faust“, bis diese kraftlos niedersinkt. Man kann dieses Vorgehen mit dem britischen Militärstrategietheoretiker Liddell Hart als indirect approach bezeichnen (Hart 1954). Des Weiteren ist der Partisanenkrieg eine Variante der Ermattungsstrategie, bei der die Dauer, die Zeit des „langewährenden Krieges“ (Mao), zur strategischen Ressource für eine Seite wird.
Es gibt aber auch eine Entwicklung hin zur Ermattungsstrategie infolge des Scheiterns der Niederwerfungsstrategien aller beteiligten Akteure, wofür der Erste Weltkrieg das wohl wichtigste Beispiel ist, jedenfalls was die erstarrte Front von den Vogesen bis zum Ärmelkanal betrifft: Hier im Westen entwickelte sich der Krieg zu einem Erschöpfungskrieg. Dieser wird typischerweise auf drei Ebenen geführt, die unterschiedlich gewichtet sein können, aber allesamt eine Rolle spielen:
- Unmittelbar an der Front, wo vor allem Artillerieduelle geführt werden, die in Materialschlachten enden. Wenn sich Offensiven beider Seiten in der tiefen Verteidigung der Gegenseite schnell festfressen, geht es, statt um einen Durchbruch in die Tiefe des Raumes, um ein Ausbluten oder Auslaugen des Gegners.
- In der Erschöpfung der Zivilbevölkerung, sei es physisch durch eine Handelsblockade oder durch Angriffe auf die Infrastruktur, durch Bombenkrieg gegen Städte und ähnliches.
- In der Erschöpfung der wirtschaftlichen und fiskalischen Ressourcen eines Landes, die für die Weiterführung des Krieges vonnöten sind.
Ausblick
Was heißt das für Deutschland und Europa, wenn dafür Sorge zu tragen ist, dass die Ukraine den Krieg nicht verliert? Als Erstes eine auf lange Zeit angelegte Lieferung von Waffen und Munition, um die Durchhaltefähigkeit der ukrainischen Armee sicherzustellen. Hier muss man sagen, dass die Regierung der Ukraine, vor allem aber der sie wirtschaftlich und militärisch unterstützende Westen nach wie vor so tut, als hätten sie es mit einem Niederwerfungskrieg zu tun; jedenfalls sind sie auf einen Erschöpfungskrieg denkbar schlecht eingestellt. Weiterhin, finanzielle Hilfe für die Ukraine zur Sicherung des Staatshaushalts, um die wirtschaftlichen Überlebensbedingungen aufrechtzuerhalten. Und schließlich eine weitere Verschärfung der Wirtschaftssanktionen, um Russland die Möglichkeiten zur Fortführung des Krieges zu nehmen. Dabei ist klar, dass diese Sanktionen erst auf lange Dauer greifen werden. Also bedarf es eines nachhaltigen Agierens der NATO-Mächte auf allen drei Ebenen der Ermattung.
Und was wäre von Verhandlungen zwecks Beendigung des Krieges zu erwarten? Die werden, wenn sie überhaupt zustande kommen, ebenfalls nach den Vorgaben der Ermattungsstrategie geführt. Seit Februar 2023 stagnieren sie, weil keine der beiden Seiten von der Erreichung ihrer Kriegsziele ablassen will und kann. Es kommt dadurch zu einem Zusammenspiel von Verhandlungen und weiterem Kriegsverlauf, wie sich dies auch in der Endphase des Dreißigjährigen Krieges, also zwischen 1644 und 1648, beobachten ließ. Das hat zur Folge, dass sich der Krieg in der Ukraine noch lange hinziehen kann und Verhandlungen wohl erst dann politisch aussichtsreich geführt werden können, wenn eine der beiden Seiten – oder auch beide – eingesehen haben, dass sie ihre maximalen Kriegsziele nicht werden erreichen können. Da das maximale Kriegsziel der Ukraine aber bloß die Wiederherstellung des Status quo ante ist, während das der russischen Regierung auf die Zerschlagung einer souveränen Ukraine hinausläuft, haben wir es hier mit einer Asymmetrie der Kriegsziele zu tun, bei der ein russischer Teilerfolg zur Prämie auf die Führung eines Angriffskrieges wird. Für eine stabile politische Ordnung in Europa dürfte das fatale Folgen haben.
Literatur
Delbrück, Hans: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte, Bd. 4: Die Neuzeit. Vom Kriegswesen der Renaissance bis zu Napoleon, Neuausgabe Berlin 2000 [1908].
Hart, Henry Basil Liddell: Strategie, Wiesbaden 1954.